Update: Therapie der Migräne

In den vergangenen Jahren haben sich dank Forschung und klinischer Entwicklung neue Möglichkeiten bei der Behandlung von Patienten mit Migräne eröffnet.1
Dies spiegelt sich auch in der aktualisierten Fassung der
S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und
Prophylaxe der Migräne“ wider.

CME-Schulung:
Zertifiziert mit 3 CME-Punkten

Autor: Prof. Dr. Dagny Holle-Lee
Westdeutsches Kopfschmerzzentrum Universitätsklinikum Essen

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Die Landesärztekammer Nordrhein hat die CME-Fortbildung anerkannt und bewertet die korrekte Beantwortung von mindestens 70 Prozent der Fragen mit drei Punkten. Sie erhalten von dort eine Bescheinigung über Ihre Teilnahme.

Diese CME ist gültig bis 13.12.2024.
Die Inhalte richten sich ausschließlich an medizinische Fachkreise.

Insbesondere die Zulassung neuer Substanzklassen und Wirkstoffe hat die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) dazu bewogen, ihre vorhergehende Leitlinienversion von 2018 vollständig zu überarbeiten. Die Autoren haben dabei die aktuelle Evidenz sowie ihre eigenen klinischen Erfahrungen in die neuen Handlungsempfehlungen einfließen lassen. An der Erstellung waren neben der DGN und DMKG zudem die Österreichische Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) sowie die Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG) beteiligt. Diese CME stellt die wichtigsten Änderungen der Leitlinie im Bezug auf die Prophylaxe der Migräne bei Erwachsenen vor. Sie erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Die wichtigsten Neuerungen in der S1-Leitlinie sind:1

  • Mit den neuen Wirkstoffen Lasmiditan und Rimegepant stehen nun Alternativen zu den Triptanen und Mutterkornalkaloiden in der Akuttherapie zur Verfügung.
  • Rimegepant ist auch in der Prophylaxe der episodischen Migräne wirksam.
  • Monoklonale Antikörper gegen Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) und den CGRP-Rezeptor eignen sich zur Prophylaxe der episodischen und chronischen Migräne von Patienten mit mindestens vier Migränetagen pro Monat.
  • In einer randomisierten Vergleichsstudie war Erenumab wirksamer und verträglicher als das traditionelle Migräneprophylaktikum Topiramat.
  • Propranolol hat eine vergleichbare Wirksamkeit wie Topiramat in der Prophylaxe der chronischen Migräne.
  • Auch bei bestehendem Übergebrauch von Akutmedikamenten kann eine prophylaktische Therapie mit Topiramat, OnabotulinumtoxinA oder einem der CGRP-Antikörper erfolgen. Die Indikation für jede Prophylaxe muss im Verlauf, spätestens nach einer Therapiedauer von 24 Monaten, überprüft werden.
  • Aerober Ausdauersport wird erstmals explizit als nichtmedikamentöse Maßnahme zur Prophylaxe der Migräne empfohlen.
  • Die nichtinvasive Neurostimulation ist eine wirksame Option zur Migräneprophylaxe sowie zur Behandlung von akuten Migräneattacken.

Experten­einordnung Prof. Holle-Lee:

Die Zulassung neuer Medikamente auf dem deutschen Markt wie Lasmiditan und Rimegepant sowie Erfahrungswerte zum Einsatz der monoklonalen Antikörper haben die Überarbeitung der Leitlinie erforderlich gemacht. So empfahl beispielsweise die letzte Leitlinie eine Therapiepause der CGRP-Antikörper nach zwölf Monaten. In der „Real-World“ zeigte sich allerdings, dass dies für viele Patienten nicht funktioniert, und es wurde nachjustiert. 

Prof. Dr. Dagny Holle-Lee
Westdeutsches Kopfschmerzzentrum
Universitätsklinikum Essen 

Der erste Teil dieser CME behandelt die Grundlagen der Migräne und ihre Entstehung. Im Anschluss werden die wichtigsten Änderungen der S1-Leitlinie und Bewertungsskalen zur Erfassung des Leidensdrucks beziehungsweise der Lebensqualität von Patienten mit Migräne im Praxisalltag vorgestellt.

Basiswissen zur Migräne

Mit 1,3 Milliarden Betroffenen weltweit zählt die Migräne zu den am weitesten verbreiteten eurologischen Erkrankungen.2,3 Dies gilt auch in Deutschland, wo etwa zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung unter Migräne leiden.4 Am höchsten ist die Prävalenz bei Erwachsenen zwischen 30 und 39 Jahren.5 Während es vor der Pubertät keine deutlichen Unterschiede in der Prävalenz zwischen den Geschlechtern gibt, sind Frauen nach dieser Lebensphase bis zu dreimal häufiger von einer Migräne betroffen als Männer.1 Charakteristische Merkmale erlauben in der Regel eine klare Abgrenzung zu anderen primären Kopfschmerzerkrankungen (s. Kasten unten).6 Die einzelnen Migräneattacken gehen fast immer mit Appetitlosigkeit einher.1 Weitere häufige Begleiterscheinungen sind Übelkeit (80 %), Erbrechen (40–50 %), Lichtscheu (60 %), Lärmempfindlichkeit (50 %) und Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Gerüchen (10 %).1 Die Diagnose basiert auf der Anamnese und setzt einen unauffälligen neurologischen Untersuchungsbefund voraus.1 Bei Kopfschmerzen mit ungewöhnlicher Klinik ist unter Umständen eine zusätzliche Bildgebung notwendig, um zum Beispiel eine Subarachnoidalblutung auszuschließen.1

Wann spricht man von einer Migräne?6

  • Mindestens zwei der folgenden Schmerzcharakteristika treffen zu:
    • einseitig
    • pulsierend
    • von mittlerer oder starker Intensität
    • Verstärkung durch körperliche Aktivitäten

  • Es kommt gleichzeitig zu Übelkeit/Erbrechen oder Licht und Geräuschempfindlichkeit.
  • Unbehandelt dauert die Kopfschmerzattacke zwischen vier und 72 Stunden.

Leiden Patienten an weniger als 15 Tagen pro Monat unter Kopfschmerzen, spricht man von einer episodischen Migräne (EM). Im Falle von 15 oder mehr Kopfschmerztagen pro Monat, von denen an mindestens acht Tagen die Kriterien einer Migräne erfüllt sind, liegt eine chronische Migräne (CM) vor.6

CGRP spielt Schlüsselrolle

Obwohl der Pathomechanismus der Migräne noch nicht vollständig geklärt ist, ist die zentrale Bedeutung des trigeminovaskulären Systems inzwischen gut belegt. So weiß man, dass bestimmte Triggerfaktoren das Neuropeptid CGRP aus Nervenfasern des Nervus trigeminus freisetzen. Dies führt Einerseits zu einer Erweiterung der zerebralen Blutgefäße und andererseits zu einer Sensibilisierung von nozizeptiven Nervenfasern (s. Abb. 1).7,8

Die weite Verbreitung von CGRP-Rezeptoren im trigeminovaskulären System sowie der Nachweis von anhaltend hohen CGRP-Konzentrationen im Blut von Patienten mit CM legten nahe, dass CGRP ein erfolgsversprechender Angriffspunkt für die akute und prophylaktische Migränetherapie ist.9–11 Entsprechend haben sich auf CGRP ausgerichtete Therapien wie monoklonale Antikörper und niedermolekulare Rezeptorantagonisten in klinischen Studien an Migränepatienten als wirksam erwiesen.12

Abb 1: Rolle von CGRP in der Pathophysiologie der Migräne (mod. nach [25]).
Abb 1: Rolle von CGRP in der Pathophysiologie der Migräne (mod. nach [25]).

Leitlinien Update

Update zur Akuttherapie

Die Neuerungen der aktualisierten Leitlinie betreffen medikamentöse Maßnahmen, welche auf die Linderung von akuten Migräneattacken und/oder deren Prophylaxe abzielen.

Im Falle von mittelschweren bis schweren Migräneattacken, die nicht auf Analgetika (z. B. Acetylsalicylsäure; ASS) oder nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR; z. B. Ibuprofen) ansprechen, empfehlen die Autoren Triptane (Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan, Zolmitriptan) und Mutterkornalkaloide (Ergotamin). Ergotamine sollten angesichts der schlechteren Wirkung und der vermehrten Nebenwirkungen nur ausnahmsweise zur Behandlung akuter Migräneattacken eingesetzt werden.1 Mittlerweile sind zwei weitere Akut-Wirkstoffe aus zwei neuen Substanzgruppen zugelassen: zum einen das Gepant Rimegepant und das Ditan Lasmiditan. Diese wurden jetzt als Alternative in die Leitlinie aufgenommen. Lasmiditan kann eingesetzt werden, wenn Kontraindikationen gegen den Einsatz von Triptanen bestehen oder mit Triptanen nicht das gewünschte Therapieansprechen erreicht werden kann; Rimegepant kann bei Patienten Anwendung finden, bei denen Analgetika oder Triptane nicht wirksam sind oder nicht vertragen werden.  Da die Wirkstoffe keine vasokonstriktiven Eigenschaften aufweisen, können sie wahrscheinlich auch bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren eingesetzt werden.1

Die Empfehlung zur begleitenden Behandlung von Übelkeit und Erbrechen mit den Antiemetika Metoclopramid oder Domperidon bleibt unverändert. Gleiches gilt für die Notfalltherapie mit folgenden parenteral zu verabreichenden Substanzen:
ASS (i.v.), Triptane (s.c.), Dopaminantagonisten wie Metoclopramid (i.v.), Metamizol (i.v.) und beim Status migrainosus Steroide (oral oder i.v.).1 Eine neue Empfehlung in der nichtmedikamentösen Akuttherapie betrifft die externe transkutane Stimulation des Nervus trigeminus im supraorbitalen Bereich. Die Leitlinienautoren haben diese Methode als wirksame Behandlungsoption bei akuten Migräneattacken sowie zur Prophylaxe der Migräne anerkannt. Darüber hinaus wird weiterhin ein Vasokonstriktionstraining (Blut-Volumen-Puls-Biofeedback) zur Behandlung eines akuten Migräneanfalls empfohlen. Obwohl Hinweise auf eine Wirkung der Akupunktur bei der Behandlung des akuten Migräneanfalls vorliegen, lässt die Qualität der Evidenz aus Sicht der Experten noch keine eindeutigen Empfehlungen zu.1

 

Update zur Prophylaxe

Welche Substanzen?

In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von monoklonalen Antikörpern gegen CGRP beziehungsweise den CGRP-Rezeptor zur prophylaktischen Behandlung der Migräne bei erwachsenen Patienten mit mindestens vier Migränetagen pro Monat zugelassen. Neben den subkutan zu injizierenden Substanzen Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab steht in Deutschland seit September 2022 der CGRP-Antikörper Eptinezumab zur Verfügung, welcher spezifisch als intravenöse Infusion entwickelt wurde.13 Die intravenöse Gabe ermöglicht einen schnellen Wirkeintritt, der sich in den Zulassungsstudien bereits an Tag 1 nach der ersten Infusion zeigte.14–16 Die regelmäßige ärztliche Zuwendung stärkt das Arzt-Patienten-Verhältnis und kann sich positiv auf die Adhärenz auswirken.17,18

Die CGRP-(Rezeptor-)Antikörper waren bislang in einer Ergänzung der S1-Leitlinie aufgeführt. Im Zuge der Aktualisierung haben die Autoren sie nun in den Haupttext integriert. Ihrer Einschätzung nach weisen sie ein allgemein sehr gutes Verträglichkeitsprofil auf. Neben den monoklonalen CGRP-Antikörpern sind auch die weiteren Wirkstoffe , die Betablocker Propranolol, Metoprolol und Bisoprolol (off-label), das Antidepressivum Amitriptylin, die Antikonvulsiva Valproinsäure (off-label; nicht bei gebärfähigen Frauen) und Topiramat, der Kalziumantagonist Flunarizin und OnabotulinumtoxinA (bei CM) in der Leitlinie aufgeführt.1 Substanzen mit geringer Evidenzlage sind Opipramol (off-label), Venlafaxin (off-label), ASS, Magnesium (ggf. plus Vitamin B2 und Coenzym Q10), der Angiotensin-Converting-Enzyme(ACE)-Hemmer Lisinopril (off-label) und Candesartan (off-label; Abb. 2).1

Abb 2: Medikamentöse Prophylaxe der Migräne (mod nach [1]).
Abb 2: Medikamentöse Prophylaxe der Migräne (mod nach [1]).

Wann medikamentöse Prophylaxe?

Die medikamentöse Migräneprophylaxe zielt auf eine Reduzierung von Häufigkeit, Schwere und Dauer der Migräneattacken und die Prophylaxe des Kopfschmerzes bei Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln ab. Sie ist vor allem dann angezeigt, wenn ein besonderer Leidensdruck, Einschränkungen der Lebensqualität oder das Risiko eines Medikamentenübergebrauchs bestehen.1
Weitere, nicht evidenzbasierte Kriterien sind:1

  • drei oder mehr Migräneattacken pro Monat, welche die Lebensqualität beeinträchtigen,
  • Attacken, die regelmäßig länger als 72 Stunden andauern,
  • Attacken, die auf eine Akuttherapie nicht ansprechen,
  • nichttolerierbare Nebenwirkungen der Akuttherapie,
  • Zunahme der Attackenfrequenz und Einnahme von Schmerz- oder Migränemitteln,
  • komplizierte Migräneattacken mit beeinträchtigenden (z. B. hemiplegischen) und/oder langanhaltenden Auren,
  • stattgehabter migränöser Hirninfarkt bei Ausschluss anderer Infarktursachen.

Welche Therapie­dauer?

Die Dauer einer prophylaktischen Therapie hängt von der Schwere der Migräne, Komorbiditäten und der verabreichten Substanz ab. Mit Ausnahme von Flunarizin, das gemäß Fachinformation nicht länger als sechs Monate eingenommen werden darf, erfolgt die Behandlung mit Prophylaktika in der Regel über mindestens neun Monate. Im Verlauf, spätestens jedoch nach 24 Monaten, muss überprüft werden, ob eine medikamentöse Prophylaxe weiterhin indiziert ist. Bei Patienten mit niedrigfrequenter EM zu Behandlungsbeginn (<8 monatliche Migränetage; MMT), kürzerer Erkrankungsdauer und ohne Begleiterkrankungen kann ein Auslassversuch nach neun bis zwölf Monaten erfolgen. Im Falle einer längeren Migräneanamnese, einer hochfrequenten EM (≥ 8 MMTs) oder CM zu Behandlungsbeginn und Begleiterkrankungen wie Depression, Angststörung oder chronischer Schmerzerkrankung liegt die empfohlene Therapiedauer bei mindestens zwölf bis 24 Monaten.1   

Experten­einordnung Prof. Holle-Lee:

Eine der wichtigsten Änderungen der Leitlinie ist, dass die Therapiepause nach neun bis zwölf Monaten mit den CGRP-Antikörpern jetzt nicht mehr eingehalten werden muss. Es wird nun empfohlen, die Therapie fortzusetzen, wenn weiterhin eine Indikation besteht. Dadurch wird den Betroffenen die erzwungene Pause erspart, die in der Vergangenheit häufig zu einer Verschlechterung der Migräne führte.

Prof. Dr. Dagny Holle-Lee
Westdeutsches Kopfschmerzzentrum
Universitätsklinikum Essen 

Einsatz von CGRP­-Anti­körpern bei MOH

Eine besondere Herausforderung in der täglichen Praxis stellt die Behandlung von Patienten dar, die aufgrund zahlreicher Migräneattacken häufig eine Akutmedikation einnehmen. Die Betroffenen tragen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Kopfschmerzen aufgrund eines Übergebrauchs von Schmerz oder Migränemitteln (MOH) (s. Kasten). In der aktualisierten Leitlinie sind CGRP-(Rezeptor-)Antikörper auch für MOH-Patienten als wirksame Therapieoption aufgeführt.1 Weitere Wirkstoffe, die sich laut Leitlinie für dieses Einsatzgebiet eignen, sind Topiramat und OnabotulinumtoxinA (bei CM).1

Wann spricht man von einem Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MOH)?1,6

Die Schwellen für einen MOH betragen:  
  • Kopfschmerz ≥15 Tage/Monat bei Patienten mit bestehender primärer Kopfschmerzerkrankung
  • Regelmäßiger Übergebrauch über >3 Monate eines oder mehrerer Medikamente zur Akuttherapie oder symptomatischen Behandlung von Kopfschmerzen
  • ≥15 Tage/Monat einfache Analgetika
  • ≥10 Tage/Monat Triptane, Mutterkornalkaloide, Kombinationsanalgetika oder Opioide
  • ≥10 Tage/Monat Kombination der o. g. Medikamente

CGRP-Rezeptor-Antikörper im Vergleich

Die bislang einzige randomisierte Vergleichsstudie zwischen einem CGRP-Rezeptor-Antikörper (Erenumab) und einem traditionellen Migräneprophylaktikum (Topiramat) wurde an 777 Patienten mit mindestens vier Migränetagen im Monat durchgeführt.19 Die Rate an Therapieabbrüchen war in der Erenumab-Gruppe signifikant geringer als in der Topiramat-Gruppe (10,6 % vs. 38,9 %). Darüber hinaus erzielte unter Erenumab ein signifikant höherer Anteil an Teilnehmenden eine mindestens 50-prozentige Reduktion der Migräneattacken als unter Topiramat (55,4 % vs. 31,2 %).19 Vertreter der Substanzklasse sollten jedoch nicht bei Patienten mit erhöhtem Risiko für vaskuläre Erkrankungen, bei Schwangeren, während der Stillzeit sowie bei Frauen ohne ausreichende Kontrazeption eingesetzt werden. Zurückhaltung ist zunächst auch nach Organtransplantation sowie beim Vorliegen der folgenden Komorbiditäten angeraten: Koronare Herzerkrankung, ischämischer Insult, Subarachnoidalblutung, Periphere arterielle Verschlusskrankheit, entzündliche Darmerkrankungen, Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Pulmonale Hypertension, Morbus Raynaud und Wundheilungsstörungen. Dies könnte sich jedoch künftig ändern, sobald entsprechende Sicherheitsdaten vorliegen. Bislang ist keiner der CGRP-(Rezeptor-)Antikörper zur Anwendung im Kindes- und Jugendalter zugelassen.1 Alle bis dato in Deutschland verfügbaren CGRP-(Rezeptor-) Antikörper sind im Rahmen ihrer Zulassung vollumfänglich erstattungsfähig.1

Nicht­medi­kamen­töse Prophylaxe

Wie bereits in der Vorgängerversion der Leitlinie nehmen nichtmedikamentöse Verfahren zur Prophylaxe auch in der aktuellen Fassung einen hohen Stellenwert ein. So soll die medikamentöse Prophylaxe generell – insbesondere aber bei Patienten mit ausgeprägter migränebedingter Beeinträchtigung und/oder psychischer Komorbidität – von psychologischen Verfahren flankiert werden. Beispiele hierfür sind Edukation, Selbstmanagement, kognitive Verhaltenstherapien, Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen sowie Biofeedback.1

Darüber hinaus haben die Leitlinienautoren regelmäßigen aeroben Ausdauersport neu aufgenommen. Hierfür sprechen auch positive Nebeneffekte von Sport allgemein wie eine potenzielle Gewichtsreduktion, da Adipositas mit einer höheren Kopfschmerzfrequenz assoziiert zu sein scheint.1 Patienten, die nicht in der Lage sind, anstrengendere Übungen durchzuführen, profitieren auch von Übungen mit geringer Belastung wie beispielsweise Yoga. Als unwirksam in der Migräneprophylaxe erachten die Leitlinienautoren hingegen Nahrungsergänzungsstoffe und Probiotika. Zuckerarme, fettarme und ketogene Diäten sind möglicherweise wirksam.1

Wirksam­keits­bewertung der Prophylaxe in der Praxis

Die Wirksamkeit von CGRP-(Rezeptor-)Antikörpern zeigt sich in der Regel innerhalb von vier bis zwölf Wochen, kann jedoch teilweise bereits ab der ersten Behandlungswoche beobachtet werden. Bei CM ist ein verzögertes Ansprechen auch noch nach fünf bis sechs Monaten möglich. Für Eptinezumab zeigte sich eine gegenüber Placebo überlegene Wirkung bereits am Tag 1 nach der Gabe der Studienmedikation.1 Einen Überblick zu der in den Zulassungsstudien beobachteten Wirksamkeit verschiedener CGRP-(Rezeptor-) Antikörper bei CM mit der jeweiligen Placebokontrolle gibt Abbildung 3.20 Die Migräneprophylaxe gilt als wirksam, wenn die Anfallshäufigkeit bei EM um mindestens 50 Prozent, bei CM um mindestens 30 Prozent reduziert wird. Die Leitlinienautoren empfehlen die Dokumentation mittels eines analogen oder digitalen Kopfschmerzkalenders.1 Alternativ kann der Therapieerfolg an patientenbezogenen Endpunkten gemessen werden. Hierzu zählt beispielsweise eine 30-prozentige Reduktion des Migraine Disability Assessment Scores (MIDAS; bei Basiswerten >20) oder eine Reduktion um mindestens fünf Punkte im Sechs-Punkte-Headache-Impact-Test™(HIT-6™; s. u.).1

Abb.3: Wirksamkeit der CGRP-(Rezeptor)Antikörper-Substanzklasse (mod. Nach [14,20,26-28]) > 50%-Response als Wirksamkeitsendpunkt bei chronischer Migräne.20,#
Abb.3: Wirksamkeit der CGRP-(Rezeptor)Antikörper-Substanzklasse (mod. Nach [14,20,26-28]) > 50%-Response als Wirksamkeitsendpunkt bei chronischer Migräne.20,#

Beim MIDAS-Fragebogen beantworten die Patienten insgesamt fünf Fragen, um die funktionellen Beeinträchtigungen durch Kopfschmerzen (insbesondere Migräne) der zurückliegenden drei Monate zu erfassen.21 Dabei liegt der Fokus auf den drei Lebensbereichen Arbeit/Schule, Haushalt und Freizeit. Ein hoher MIDAS-Score korreliert mit dem Bedarf an medizinischer Versorgung.22 Um die Einschränkungen der Patienten einzuordnen, wird der MIDAS-Score in vier Grade unterteilt: Ein MIDAS-Score von 0 bis fünf Punkten wird Grad 1 zugeordnet und bedeutet eine geringe oder keine Beeinträchtigung. Grad 2 (6–10 Punkte) weist auf leichte Beeinträchtigungen hin, Grad 3 (11–20 Punkte) auf moderate Beeinträchtigungen und ein MIDAS-Score ab 21 bedeutet schwere Beeinträchtigungen für die Patienten.23 Der HIT-6™ erfasst die negativen Auswirkungen von Kopfschmerzen auf das soziale Leben, das Berufsleben, die Vitalität, die kognitive Leistungsfähigkeit und die psychische Belastung der Patienten. Darüber hinaus wird der Schweregrad der Kopfschmerzen ermittelt. Hierfür bewerten die Betroffenen jedes abgefragte Merkmal auf einer Skala von 6 (nie) bis 13 (immer). Aus der Summe ergibt sich eine Gesamtpunktzahl zwischen 36 und 78. Dank der unkomplizierten Durchführbarkeit und der einfachen Interpretation der Ergebnisse lässt sich der HIT-6™ gut in den Praxisalltag integrieren.24

Experten­einordnung Prof. Holle-Lee:

Die Erfassung des Leidensdrucks mittels Fragebögen wie dem HIT-6™ und dem MIDAS wird im Augenblick nur in Schwerpunktpraxen oder Zentren regelhaft durchgeführt. Es ist aber durchaus sinnvoll, dies in jeder Praxis einzuführen. Denn gerade für die neuen Medikamente müssen wir immer nachweisen, dass eine Therapie wirksam ist – weil sie auch nicht preiswert ist. Das geht nicht nur über die Kopfschmerztage, sondern auch über die Erfassung der Lebensqualität. Außerdem richten wir den Beginn oder die Eskalation einer Therapie nicht nur nach Kopfschmerztagen aus, sondern auch danach, wie stark ein Patient oder eine Patientin beeinträchtigt ist.

Prof. Dr. Dagny Holle-Lee
Westdeutsches Kopfschmerzzentrum
Universitätsklinikum Essen 

Fazit für die Praxis

Im Zuge der Aktualisierung wurden neue, evidenzbasierte Therapieoptionen in die S1-Leitlinie „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“ aufgenommen. Dazu zählen unter anderem die monoklonalen Antikörper gegen CGRP (z. B. Eptinezumab) oder gegen den CGRP-Rezeptor (Erenumab). Damit haben Ärzte heutzutage neben nichtmedikamentösen Maßnahmen eine große Auswahl an wirksamen und sicheren Medikamenten. Mit diesen können sie die Behandlung ihrer Migränepatienten optimieren und, je nach Begleiterkrankungen, Bedürfnisse der einzelnen Patienten und andere Faktoren individualisieren. Mit der externen transkutanen Stimulation des Nervus trigeminus im supraorbitalen Bereich sowie regelmäßigem aeroben Ausdauersport haben sich auch die nichtmedikamentösen Optionen in der leitliniengerechten Migränebehandlung erweitert. Unter Berücksichtigung der jeweiligen Indikation sowie der Leitlinienempfehlungen ist eine Verordnung von Medikamenten zur Akuttherapie und Prophylaxe der Migräne zulasten der GKV grundsätzlich möglich. Im Falle von Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Regressforderungen ist eine gute Dokumentation hilfreich, beispielsweise auch unter Zuhilfenahme von den oben aufgeführten Bewertungsskalen zur Erfassung des Leidensdrucks und der Einschränkungen in der Lebensqualität.

Experten­einordnung Prof. Holle-Lee:

Vor der Aktualisierung der Leitlinie hat die Therapiepause in den Praxen häufig zu einer Unzufriedenheit geführt. Die Ärzte haben den Sinn der Pause nicht gesehen, vor allem dann, wenn die Betroffenen damit unzufrieden waren. Deshalb bedeutet die Aktualisierung für die Verschreiber mehr Freiheit und Sicherheit und für die Patienten eine deutlich bessere individualisierte Therapie. Zusätzlich erweitern die neuen Medikamente das Therapiespektrum.

Prof. Dr. Dagny Holle-Lee
Westdeutsches Kopfschmerzzentrum
Universitätsklinikum Essen 

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* In der Schweiz nicht zur Behandlung der Migräne zugelassen.
  1. Diener HC et al. Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2022, DGN und DMKG, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: https://dgn.org/leitlinie/therapie-der-migraneattacke-und-prophylaxe-der-migrane-2022 (abgerufen am 5.8.2023).
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  4. Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Migräne. 2022. Online:
    ww.dmkg.de/patienten/antworten-auf-die-wichtigsten-fragen-rund-um-denkopfschmerz-onlinebroschuere/online_broschuere_migraene (abgerufen am 5.8.2023).

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  6. International Headache Society (IHS). IHS Classification ICHD-3. Cephalalgia. 2018;38(1): 1–211. Online: https://ichd-3.org/de/1-migrane/ (abgerufen am 5.8.2023).

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  28. Detke HC et al. Neurology 2018;91:e2211–e2221.

Finanzielle Interessenskonflikte: Honorare für Referenten- und Beratertätigkeit von Allergan, Lilly Pharma, Teva GmbH, Amgen, Novartis Pharma GmbH, Hormosan Pharma GmbH, Lundbeck GmbH, Pfizer Pharma GmbH, Zuellig Pharma, Abbvie, Biogen, Stada. Nichtfinanzielle Interessen: Fachärztin für Neurologie; Leiterin der Forschungsgruppe Kopfschmerz am Westdeutschen Kopfschmerzzentrum, Universitätsklinikum Essen; Mitglied der DGN-Leitlinien-Kommission, des Off-label-Ausschusses des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) sowie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). 

Pflichttext

Vyepti® 100 mg Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung. Vyepti® 300 mg Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung. Wirkstoff: Eptinezumab. Qualitative und quantitative Zusammensetzung: Vyepti® 100 mg Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung. Jede Durchstechflasche mit Konzentrat enthält 100 mg Eptinezumab pro ml.. Vyepti® 300 mg Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung. Jede Durchstechflasche mit Konzentrat enthält 300 mg Eptinezumab pro 3 ml.. Eptinezumab ist ein humanisierter monoklonaler Antikörper, der in Pichia-pastoris-Hefezellen produziert wird. Sonstiger Bestandteil mit bekannter Wirkung: Dieses Arzneimittel enthält 40,5 mg Sorbitol pro ml. Sonstige Bestandteile: Sorbitol (E420), L-Histidin, L-Histidinhydrochlorid-Monohydrat, Polysorbat 80, Wasser für Injektionszwecke Anwendungsgebiete: Vyepti® wird angewendet zur Migräneprophylaxe bei Erwachsenen mit mindestens 4 Migränetagen pro Monat.Gegenanzeigen: wird angewendet zur Migräneprophylaxe bei Erwachsenen mit mindestens 4 Migränetagen pro Monat. Warnhinweise: Patienten mit kardiovaskulären, neurologischen oder psychiatrischen Erkrankungen: Für diese Patienten liegen nur begrenzte Daten zur Sicherheit vor. Vyepti® kann schwerwiegende allergische Reaktionen hervorrufen. Diese Reaktionen können sich schnell und bereits während der Verabreichung des Arzneimittels entwickeln. Arzneimittel für Kinder unzugänglich aufbewahren. Nebenwirkungen: Infektionen und parasitäre Erkrankungen: Häufig: Nasopharyngitis; Erkrankungen des Immun-systems: Häufig: Überempfindlichkeitsreaktionen, Gelegentlich: Anaphylaktische Reaktion; Allgemeine Erkrankungen und Beschwerden am Verabreichungsort: Häufig: Infusionsbedingte Reaktion, Erschöpfung/Fatigue. Weitere Informationen siehe Fachinformation. Inhaber der Zulassung: H. Lundbeck A/S, Ottiliavej 9, DK-2500 Valby, Dänemark Deutschland. Verschreibungspflichtig. Örtl. Vertreter:Lundbeck GmbH, Ericusspitze 2, D-20457 Hamburg. ▼ Dieses Arzneimittel unterliegt einer zusätzlichen Überwachung. Dies ermöglicht eine schnelle Identifizierung neuer Erkenntnisse über die Sicherheit. Angehörige von Gesundheitsberufen sind aufgefordert, jeden Verdachtsfall einer Nebenwirkung zu melden. Stand der Information: Dezember 2023

Lundbeck (Deutschland) GmbH, www.lundbeck.de